Mit Mütze und Schal in den leeren Saal? Die Energiekrise bedroht die Theater — der Freitag

2022-09-10 12:02:26 By : Mr. Michael SJ

Foto: Imago/ Martin Müller

Zu meinen Lieblingsanekdoten aus der Corona-Zeit zählt die Geschichte eines Freundes, der als Schauspieler an einem Stadttheater engagiert ist. Um den vorgeschriebenen Mindestabstand im Zuschauersaal einzuhalten, hatte das Theater sämtliche Stühle, die unbesetzt bleiben mussten, mit schneeweißen Hussen versehen. Doch wer auch immer diese Hussen in Auftrag gegeben hatte, war auf die schräge Idee verfallen, den Stoff nach oben spitz zulaufen zu lassen, sodass über der Lehne ein weißes Dreieck in die Höhe ragte. Das wiederum ließ meinen Freund Vorstellung für Vorstellung erschaudern, weil es ihm, wie er sagte, immer so vorgekommen sei, als ob er vor dem Ku-Klux-Klan spielen müsse.

Heute frage ich mich, welche Assoziationen ihn demnächst wohl überkommen, wenn das Publikum, wie es nun immer wieder heißt, mit „Wintermantel, Schal, Mütze und Handschuhen“ im Parkett Platz nehmen wird.

Dass auch Theater wegen der eklatant gestiegenen Preise befürchten müssen, ihre Energierechnung im kommenden Winter nicht mehr bezahlen zu können, zeichnete sich schon ab, als Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Sommer von „schmerzhaften Einschnitten“ für die Kulturbranche sprach.

Nach den herben Einschlägen, die die Pandemie den Theatern beschert hat, könnte nun also ein kalter Winter hinzukommen, in dem möglicherweise das Geld nicht dafür reicht, das Haus überhaupt zu beheizen. Was für eine düstere Aussicht. Wem wird dann überhaupt noch der Sinn nach Theater stehen, jetzt, wo wir ja alle mit – sagen wir mal – ernsthaftem Interesse auf die nächste Abrechnung schielen?

In diesem nicht enden wollenden Krisenmodus gibt sich einzig das Berliner Ensemble frohgemut: Von den Einbrüchen bei den Zuschauerzahlen hat sich das Theater gut erholt, die Auslastung ist wieder hoch, und zusätzlich macht das Haus als Vorbild von sich reden, weil es schon seit Jahren daran arbeitet, den eigenen Energieverbrauch zu senken. Durch programmierbare Thermostate, optimierte Heizsysteme, LED-Umstellung und einfache Maßnahmen wie das Schließen der Fenster und das Abstellen von Heizung und Licht, wenn niemand da ist, konnte es in den vergangenen vier Jahren 20 Prozent Energie einsparen.

Hier wird anscheinend schon länger praktiziert, was im kommenden Winter voraussichtlich für alle gelten wird: aus der Krise lernen und umdenken. Wer weiß denn schon, welche Ideen, welche konstruktiven Chancen sich aus der Not ergeben?

Immerhin hat in Deutschland eine Energiekrise schon einmal zu einer Festivalgründung geführt: Als im eisigen Nachkriegswinter 1946 den Hamburger Theatern das Heizmaterial ausging und die Schließung drohte, schickte ein ideenreicher Beamter zwei Lkw in Richtung Ruhrgebiet, sie sollten sich dort auf die Suche nach Brennmaterial machen. Dort angekommen, verstanden sich die Hamburger so gut mit den Kohlekumpeln, dass die Lastwagen prompt mit Kohle beladen wurden und, an der britischen Militärpolizei vorbei, sicher zurück zu den Theatern gelangten. Die Bühnen blieben offen, und im folgenden Sommer fuhr eine Gruppe von Theaterleuten nach Recklinghausen, um aus Dankbarkeit für die Rettungsaktion vor den Kumpeln zu spielen. Die Ruhrfestspiele Recklinghausen waren geboren.

Vielleicht müssen wir also gar nicht mit Mantel und Mütze ins Theater. Vielleicht können wir Wärme zurückgeben. Diejenigen, die es sich noch leisten können, bieten in diesem Winter den Schauspielern ihre Stube, damit sie dort spielen können. Das Problem mit den Zuschauerzahlen wäre gelöst, genügend Stuhlhussen wären auch vorhanden, und wir als Publikum könnten endlich unsere Dankbarkeit zeigen, für all die schöne Zeit, die wir bisher im Theatersaal erleben durften.

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