Ich werde versuchen, so lange wie möglich ein Geheimtip zu bleiben, ein Phantom, ein berühmter Unbekannter.
Dieses neuerlich verheerende Jahr wird, sofern es in ein paar Monaten in Anwesenheit einer Menschheit zu Ende geht, kein bedeutenderes Buch gekreißt haben als »Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie«, Ror Wolfs »Tagebuch 1966–1994« (Frankfurt am Main 2022).
Kay Sokolowskys innige Würdigung des Dichters, der im Juni neunzig Jahre alt geworden wäre – Ror Wolf starb im Winter 2020, Sokolowsky und ich konnten ihn kurz zuvor noch einmal im Krankenhaus besuchen –, ist das Beste, das Kundigste, Warmherzigste, was über den Solitär, der in Mainz einen Rückzugsort gefunden hatte, bis dato publiziert wurde. Kay verneigt sich vor einem unbegreiflichen Werk, und er winkt einem Freund hinterher. Er schreibt in der Konkret 7/2022: »Es fällt mir bis heute schwer, seinen Tod zu akzeptieren, denn einen wie ihn habe ich vorher nie gekannt und werde ich vermutlich nie wieder kennenlernen. Wie mir sein Witz, seine Klugheit, seine samtene Stimme, seine ebenso ehrfurchtgebietende wie betörende Aura fehlen, fühle ich fast jeden Tag.«
»Wieviel wörtliche Schönheit, formale Zauberei, poetischen Realismus, wieviel Schrecken und Staunen und nicht zuletzt Schabernack sie verpassen«, werden die von den elektronischen Medien sedierten und kontaminierten, die von dieser Gesellschaft planvoll produzierten Mehrheitsmenschen niemals merken. Sie haben ihre Leben, die sich, bestenfalls, halt so leben – und nicht mal (mehr) eine trübe Ahnung, ein unklares Gefühl, dass es anders sein könnte. In derlei ruinierten und betonierten Verhältnissen hat die Kunst nichts (mehr) verloren.
Ror Wolf »tat, was er am besten konnte, besser als irgendeiner: Wörter zusammenfügen, welche die Welt auseinandernehmen« (Sokolowsky), und an die Stelle der schäbigen, platten, erniedrigenden, barbarischen und darob tranchierten und demontierten Wirklichkeit – des idiotischen, geistlosen So-ist-Es – setzte er unerhörte Universen, abenteuerlich rätselhafte Berichte, beglückende und befreiende, mit Weltabfällen gemästete Erzeugnisse der Einbildungskraft: Wortstrudel und schwebende Wortrhythmen, beängstigende Klanghöhlen und blitzend helle Tonumschwünge, totale Katastrophen und salvierende Unwahrscheinlichkeiten.
Es gibt von Ror Wolf nicht einen einzigen Satz, der nicht komponiert, der hingepatzt oder missraten wäre. Auch die Briefe und Mails, mit denen er mich beschenkt hat (nebst zwei Collagen, die er mir zum Freundschaftsspottpreis überließ und die hier hinter mir hängen), bezeugen das aufs schlagendste. Völlig richtig urteilt Kay Sokolowsky über die Diarien: »Sie sind (…) – von den reinen Erinnerungsstützen und -daten abgesehen –, wie alles, was Ror Wolf niederschrieb, hinreißende Prosa. Gleich, welche Seite man aufschlägt, Perlen der glänzendsten, Gemmen der funkelndsten Sorte, und der Herausgeber liegt wohl richtig, wenn er vermutet, dass die Tagebücher ein ›Fragment der Autobiographie‹ darstellen, die Wolf lange plante, doch nie fertigstellte.«
Wollte ich »Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie« angemessen besprechen, müsste ich jeden Satz zitieren, jeden, ich müsste auf mönchische Weise eine Kopie anfertigen. Die Motivverschlingungen, die Einfallspartikelhäufungen, die Lakonie, die federnden Sätze, die philosophischen Reflexionen (»Ich sitze am Rhein und beschäftige mich mit dem Denken«), die Notizen zur Arbeitsweise, die Wutausbrüche und die stillen Hymnen und vieles, überbordend vieles mehr – das Tagebuchkonvolut ist ein Werk sui generis und zugleich ein Leitfaden für Wolfs zu Lebzeiten veröffentlichtes Œuvre, das bei Schöffling peu à peu in der denkwürdig sorgfältigen, hie und da suppletorischen Werkausgabe »RWW« neu erscheint.
Ror Wolf »plante die Lebensbeschreibung als ein Register A–Z«, erläutert Klaus Schöffling in seiner instruktiven editorischen Notiz. Ich erlaube mir, mich des lemmatisierenden Verfahrens zu bedienen – nicht aus Faulheit, nicht, weil mir der Sinn nach ungebührlicher Adaption stünde, sondern einer gewissen Rezensentenratlosigkeit (oder -unfähigkeit) wegen und aber unzweifelhaft zum Behufe vollauf statthafter Lobpreisung.
Angemerkt sei zudem, dass mir nicht daran liegt, die existentielle Düsternis, die sich nicht selten in Ror Wolf einnistete, die Depressionen und die Verzweiflung, die sich seiner bemächtigten, zu unterschlagen. Trotzdem konzentriere ich mich hier mehr oder weniger auf Einträge und Bruchstücke, in denen die finstere und zugleich himmelweite, leichte Wolfsche Komik waltet (»Meine Stimmung ist gar nicht so übel. Ich könnte jetzt ohne weiteres lachen«); eine Komik, die in seiner Schriftstellergeneration kaum einmal ihresgleichen findet.
»14. Oktober [1967] großes Saufen bei [Adam] Seide.« Zwölf Tage zuvor in Nürnberg (siehe Nürnberg): »Ich muss mir die Haare von einem Friseur waschen lassen, damit der Kopf härter wird: er könnte mir plötzlich vom Hals fließen.«
Ein andermal der Vorsatz, »in den Schnaps zu stürzen«.
»Abends rufe ich an, mich bedankend, um mich danach herzlos zu betrinken.« Dass der Alkohol kontraproduktiv, ja ungemein missmut- und ärgerverstärkend zu wirken vermag (»Das, was der Schnaps vertreiben soll, produziert er«), ist Ror Wolf sehr wohl geläufig. Deshalb legt er in späteren Jahren – ab und an lange – Phasen der Abstinenz ein, die à la longue interessante Empfindungen und Handlungen zeitigen: »Ich ziehe die Hose an, um Schnaps zu kaufen, ziehe aber, da ich keine Lust auf Schnaps habe, die Hose wieder aus.«
August 1986: Ror Wolf trennt sich vom Haffmans-Verlag (wie von praktisch allen Verlagen): »Ich sitze danach ganz ausgelaufen herum. Ich ziehe mich in den Whisky zurück. Ich krieche hinein in die Flasche und schlafe ein.«
Silvester: »Das ist in diesem Jahr meine letzte Handlung: Das entschlossene Wegkippen von Schnaps.«
Ein halbes Jahr später indes: »Ich bin zufriedener, reicher, möglicherweise auch glücklicher. Es gibt tatsächlich im Moment keine Probleme, nur dieser Wein, dieser Brunello di Montalcino, ist kaum zu trinken.«
Weiteres passim (zum »Rund-Trunk« et cetera).
Warum mir Ror Wolf, wenn er mich zu meinem Wagen begleitete, in der Tiefgarage des Hauses in der Kupferbergterrasse des öfteren seinen intakten Saab-Oldtimer zeigte, mit dem er früher durch Europa geprescht war, wurde mir angesichts der zahlreichen Saab-Episoden in den Tagebüchern klar. Ständig sorgen ihn »veränderte Motorengeräusche«, ständig fällt der Auspuff ab, ständig steht die Mühle in der Werkstatt. Exemplarisch sei dieser Abschnitt: »Auf der Autobahn fällt mir ein verändertes Motorengeräusch auf, der Wagen zieht nicht. Beim Tanken: es ist klar, dass der Auspuff bald abfallen wird. Regen, Pfingstverkehr, Lastwagenmassen: wir schleichen rechts mit maximal 80 km/h dahin, damit rechnend, dass jeden Moment der Auspuff abfällt und uns aufspießt: etwa 300 Kilometer lang. Schwere Regenfälle. Der Auspuff fällt nicht ab. Kein Wort mehr.«
1971 hat Ror Wolf ein Stipendium, das ihn nach Berlin lotst. Berlin ist eine gute Stadt: »Ich habe ein Lebensmittelgeschäft gefunden. Abends bleiben Maier und Bissinger manchmal ein bisschen meinetwegen da und saufen mit mir allen Schnaps aus. Eines Abends ist auch Artmann da und kocht eine Linsensuppe.« – »Weiterleben als Spaziergangsmensch, als Knackwurstmensch, Gurkenmensch und Schnapsmensch undsoweiter: in Berlin, am Wannsee.«
Zehn Jahre danach: »Ich habe längst wieder die Kältezone erreicht, wo ich gelassen über meine Lage nachdenken kann. Ich werde jetzt das Fenster öffnen, um die Sache ins Allgemeine zu ziehen, wohin sie gehört. Danach Wurstsalat.«
Überhaupt, das dauernde Vorkommen von Wurst (der Dichter Wolfgang Maier, der kaum schrieb, den keiner mehr kennt und den Ror für einen der Besten hielt, erstickte an einer, Ror erzählte es manchmal): »Rheingau nachts weggeschwemmt vom Schlamm. Ich esse eine Wurst, und es geht weiter.«
Im November 1974 bezeichnet Ror Wolf in einem Interview mit Wilhelm Genazino, das Klaus Schöffling in einer Fußnote dokumentiert, die verschiedenen Arbeiten, an denen er gerade sitze, in summa als »Beitrag (…) zur völligen, zur totalen Zertrümmerung des Buchmarktes«.
Im Januar 1981 konstatiert Wolf, er müsse »also wieder ein Buch machen in dieser ohnehin von Literatur zugeschmierten Welt, in diesem Literaturmatsch, in dem man bis zum Bauch versinkt oder bis zum Kinn, also noch ein Buch machen, weil es gar nicht mehr anders geht, weil man sonst ausradiert wird aus den Katalogen und den Nachschlagewerken«.
Ihn könne »die Literaturindustrie mal insgesamt, bitteschön«, vermerkt er im Oktober 1989. Eine »Karriere« habe er nie angestrebt, notiert er im April 1991, er »habe lediglich versucht, so zu leben, wie ich es wollte«. Denn Ror Wolf besaß ein hohes Maß an Selbstachtung, was etliche Male zu dem Entschluss führte, das Schreiben von Büchern zu beenden (wohlgemerkt von Büchern, nicht das Schreiben), auch weil er die Erfahrung gemacht hatte: »Man hält Autoren für Spielzeugmäuse, die nach Bedarf piepen.«
»Der Buchmarkt ist wahnsinnig«, heißt es bündig im Februar 1993, im April: »Die Verlagslandschaft wird hiermit zum Katastrophengebiet erklärt.« Ror Wolfs Ekel vor der kapitalistischen Verwurstungsmaschinerie war profund.
Seine erste und langjährige Verlagsheimat hatte er bei Suhrkamp gefunden, obwohl von Heimat zu reden unpassend, unangemessen ist. Beheimatet war Ror Wolf wohl nirgendwo – außer im Kosmos der Phantasie (siehe auch Poetologie).
Nebensächlich, dass Suhrkamp ihm nicht einmal Reisekosten erstattete (während man andere Autoren mit Geld zukleisterte; finanzielle Sicherheit erlangte Wolf erst durch seine Hörspiele; damals garantierte der öffentlich-rechtliche Rundfunk vielen sogenannten experimentellen Schriftstellern ein monetäres Auskommen, damit ist es heute ebenfalls vorbei). Sein Verhältnis zum Verleger Unseld (siehe auch Poetologie) war ein erst ambivalentes, schließlich ein äußerst gestörtes. Das drückt sich in einem kurzen Psychogramm aus, das er am 7. Juni 1984 zu den Akten gibt: »Der Verleger Unseld gehört seiner ganzen Natur nach zu den Gewinnern, und zwar zu der Sorte von Gewinnern, die gänzlich unfähig sind, sich einen Begriff zu machen von der Lage der partiell Erfolglosen. Angst hält er für Feigheit. Der Misserfolg stößt ihn ab. Er hält Misserfolg für Schwäche, für Untüchtigkeit, für eine unanständige Krankheit.«
Erschütternd großartig die Worte vom 17. September 1979: »Es ist immer ein hübsches Gefühl, mit Herrn Unseld zu reden, man fühlt sich so anfängerhaft und erfolglos, so ganz geborgen im Hause Suhrkamp.«
Ich kürze diese Sache ab: »Was für ein Vergnügen muss es sein, kein Suhrkamp-Autor zu sein. Dieses Vergnügen werde ich mir nicht entgehen lassen.« (März 1980)
»Ich ziehe einen Beischlaf in Erwägung.«
Die Dame, die im letzten Part der »Folgen der Phantasie« auf hochinteressante und verwirrende Weise zugange ist, kannte ich gut. Sie war die beste Freundin jener Assistentin am Institut für deutsche Sprache und Literatur I, deren Stelle und deren Wohnung ich Anfang der neunziger übernahm. Seither lebe ich im Frankfurter Gallus, ich bewege mich nunmehr kaum noch aus dem Viertel heraus.
Die Fickereien mit der Dame S. – sie hatte eine Bombenfigur und rauchte unentwegt – bahnten sich in meiner nachmaligen Stammkneipe an, in der »Zeitungsente« an der nächsten Straßenecke, dort, wo Günter Sare von einem Wasserwerfer zermalmt worden war. (Schräg gegenüber der Saalbau, in dem die Auschwitzprozesse stattfanden.)
Ich hätte Ror mithin bereits 1996 kennenlernen können. Er saß auf den Stühlen in der »Zeitungsente«, auf denen ich ab etwa 1998 unentwegt saß.
»Auffällig ist ein Orgasmus, den sie mit aufgerissenen glasigen Augen hat, mit einem nahezu starren düsteren fast entsetzten Gesicht. Plötzlich schickt sie mich fort. Und dabei wirkt sie so, als würde sie in irgendeine Kneipe gehen, einen Mann ansprechen und weitermachen. Alles andere ist mir entfallen.«
Rückblende: »5. August [1979]. Ein hochappetitliches Abenteuer; bei allen Bösartigkeiten amüsant und abwechslungsreich und aufregend und eigentlich ganz hübsch verrückt mit Verknotungen und Verwicklungen und Abbrüchen und Wiederanfängen stöhnend und keuchend und zuweilen zart und gelegentlich ungemein schmackhaft und heimtückisch und gewaltsam hinterlistig schadenfroh unaufhaltsam bis an die Ränder des großen Vergnügens mit allen sich ausstreckenden Behaglichkeiten schlürfend und wippend mit ungeheurer Geschwindigkeit über die Straßen an allem vorbei undsofort und so weiter einfrierend und schmelzend. Aber natürlich immer auch das Gegenteil von allem.«
Das Essen nimmt einen signifikanten Raum in Ror Wolfs Leben ein. Ich habe ihn immer als engagierten Esser wahrgenommen. Ein schlanker Mann, ein tüchtiger Tellerleerräumer.
Wir waren in den ersten Jahren meist im »Schnitzelgebirge«, wie Ror das in Laufweite gelegene Lokal zu nennen pflegte, in einer rustikalen deutschen Gastwirtschaft in einer ganz sinnlosen Gasse oben an diesem Mainzer Berg. Man schaute auf einen Dom, für den ebensowenig eine Rechtfertigung bekannt ist.
Später stets »beim Griechen« um die Ecke. Auch mit Christian Brückner saßen wir da, an Rors fünfundsiebzigstem Geburtstag, Photos dokumentieren den unverschämten Vorgang unserer stundenlangen Unterhaltung und Zecherei. Ich möchte eine Maschine aus dem Keller holen, die mich in diese Zeit und an diesen Tisch »beim Griechen« zurückbringt. Wir waren nicht unzufrieden.
»Ich könnte mir denken«, trägt Ror Wolf am 15. Dezember 1992 ein, »dass der neue Verlagsfall nur veranstaltet wurde, um mir zu einer makellos dunklen Biographie zu verhelfen. – Nach dieser Überlegung besuchen wir die hiesige Weinstube in der Kotzgasse. Ich esse einen Spießbraten und stelle fest, dass ich seit Jahren nichts ähnlich Entsetzliches gegessen habe: ein krankes aasartiges fett verknorpeltes Fleisch.«
17. Dezember: »Diese Wohnung verdaut mich langsam.«
1977. »10. Februar Was was was – keine Ahnung.« – »17. Februar Weiter nichts.« – »18. Februar Wieder nichts.«
Heinz Strunk kann das nicht gekannt haben. In seinem poetischen Tagebuch »Intimschatulle« in der Titanic tauchte jeden Monat rituell einmal »Heute nichts« auf.
Ror Wolf am 28. des Monats: »Nachdenken über ein Western-Hörspiel aus TV-Mitschnitten.« Dies ein Wink in Richtung seiner Poetologie.
Jürgen Roth, Jahrgang 1968, ist Schriftsteller und Sprachwissenschaftler. Er ist regelmäßiger Autor des jW-Feuilletons und einziger Träger der jW-Ehrennadel für hervorragende Sportberichterstattung. Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle in der Ausgabe vom 25./26. Juni 2022 ein Ehrenrettung für Jörg Dahlmann. Der zweite und abschließende Teil seiner Betrachtungen über Ror Wolfs Tagebücher erscheint in der kommenden Wochenendausgabe.
Ror Wolf: Die unterschiedlichen Folgen der Phantasie. Tagebuch 1966–1994. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022, 344 Seiten, 32 Euro
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