Nord Stream 1: Eine Pipeline, durch die nichts fließt

2022-09-17 11:20:54 By : Mr. Alvin Wu

Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,

ein bisschen grotesk ist es schon, wie sich Bundeskanzler Olaf Scholz freut (ganz anders als die Ukraine), dass Kanada nun entgegen den Anti-Russland-Sanktionen eine reparierte Turbine für Nord Stream 1 doch liefert. Die Arbeiten boten Wladimir Putins Gazprom einen willkommenen Grund, nur noch 40 Prozent der vereinbarten Liefermenge durch die Ostsee-Pipeline zu schicken. Den Grund zum völligen Lieferstopp liefert sich Pipeline-Präsident Putin heute selbst: mit den auf zehn Tage terminierten, jetzt beginnenden Wartungsarbeiten. Ein Routinevorgang, der gar nicht routiniert enden könnte.

Minutiös liefert mein Kollege Moritz Koch die „Rekonstruktion eines Staatsversagens“: Wie im Berliner Regierungsviertel niemand den Amerikanern glaubte, die 2021 vor verdächtig niedrigen Füllständen des Gazprom-Gasspeichers warnten. Wie Angela Merkel beschönigte, wie sich Peter Altmaier im Nachhinein ganz schön clever gibt, wie man kritische Artikel verdrängte und sich Olaf Scholz heute fragt, warum denn bloß niemand einen Schluss aus dem leeren Speicher gezogen habe. Ja, warum wohl? Das müsste der Ex-Vizekanzler besser wissen als seine schwindenden Wähler.

Für Herbst und Winter zeichnet sich für das knappe Gut Gas ab: Die Preise werden steigen, die Menge wird zwischen Industrie und Privathaushalten rationiert werden müssen. Für Wirtschaftsminister Robert Habeck ist eine mögliche staatliche Zuweisung von Gas ein „politisches Albtraum-Szenario“. Das würde Deutschland „vor eine Zerreißprobe stellen, die wir lange so nicht hatten“. Das Schlusswort zum Gas-GAU kommt von Thomas Kleine-Brockhoff: „Sich sehenden Auges in eine solche Abhängigkeit zu begeben – das war keine Nebenwirkung, das war das gewünschte Ziel.“

Jetzt die besten Jobs finden und per E-Mail benachrichtigt werden.

Guter Rat ist teuer, vor allem wenn es um die großen vier „D“ des Transformationskapitalismus geht: Dekarbonisierung, Digitalisierung, Deglobalisierung, Deals. Die vom Gespenst der „Disruption“ aufgescheuchten Firmenchefs suchen dabei immer stärker die Nähe von Consultingfirmen, wie unsere Titelstory zeigt.

Die drei weltweit führenden Strategiefirmen hätten daher ihre deutschen Umsätze in 2021 um rund 20 Prozent gesteigert, heißt es im Text mit Bezug auf eine Auswertung der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Management und Beratung in Bonn. Demnach liegt McKinsey mit mehr als einer Milliarde Euro Umsatz vorn, knapp gefolgt von der Boston Consulting Group und der stark wachsenden Gesellschaft Bain & Company, die auf 400 Millionen kommt.

Ein stürmischer Markt und heftiges Abwerben führen dazu, dass die Personal-Fluktuation aktuell mit 13,3 Prozent so hoch ist wie zuletzt vor acht Jahren. Jean Paul kommentiert so: „Man nützt und versteht nur solche Lebensregeln, von denen man die Erfahrungen, worauf sie ruhen, so durchgemacht hat, dass man die Regeln hätte selber geben können.“

Auf die Schnelle, mit großem Lobbyheer und rabiaten Methoden hat der US-Konzern Uber vor Jahren versucht, sich einen globalen Markt zu sichern – gegen die etablierten Taxi-Unternehmen. Ethik zählte dabei wenig, wie aus den „Uber Files“ hervorgeht, einem Datenleck aus mehr als 124.000 vertraulichen Dokumenten.

Dabei ergibt sich, dass das US-Unternehmen 2014 in Frankreich den damaligen Wirtschaftsminister und heutigen Präsidenten, Emmanuel Macron, als Freundschaftskontakt gewann. Es gab etliche, bisher unbekannte Treffen, wobei sie in einer „bemerkenswert warmherzigen, freundlichen und konstruktiven Atmosphäre empfangen“ worden seien, notierten die Uber-Leute über Termine mit Macron.

Auch die einstige EU-Kommissarin Neelie Kroes setzte sich nach ihrem Ausscheiden in Brüssel 2014 engagiert und klandestin für Uber ein, bevor sie dort offiziell gegen 200.000 Dollar Jahressalär Beraterin werden durfte.

In Deutschland koordinierte der heutige haushaltspolitische Sprecher der FDP, Otto Fricke, von September 2014 bis März 2015 die Uber-Lobbykampagne. Damals war er aus der Politik aus- und in die Münchener Agentur CNC (heute Kekst CNC) eingestiegen. Wie schrieb Ubers Cheflobbyist für Europa damals dem Liberalen: „Du hast das Sagen, mein Freund.“

Die Unterlagen zeigen auch, dass mehrere Uber-Niederlassungen mit „Kill Switches“ ausgestattet wurden, einer speziellen Software mit der Funktion, im Falle einer Razzia den Ermittlern den Zugang zum Computer zu sperren. Gegen das jüngste Datenleck aber half keine Software.

Heute schaut Japan auf eine Totenwache und auf Wahlergebnisse. Aufgebahrt wird der Leichnam des langjährigen Ministerpräsidenten Shinzo Abe, der am Freitag während des Wahlkampfs zum Oberhaus von einem 41-Jährigen ermordet wurde – weil dieser „einen Groll gegen eine bestimmte Organisation hege“, offenbar eine religiöse Gruppe. Mit seinen „Abenomics“, die auf Konjunkturprogramme und Deregulierung setzten, hinterließ der konservative Politiker ein spezielles japanisches Wirtschaftskonzept.

Zwei Tage nach dem Attentat gewann am Sonntag seine regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) mit 70 bis 83 Mandaten die Wahl und kann mit dem Koalitionspartner Komeito die Amtsgeschäfte fortsetzen. 125 der 248 Sitze im Oberhaus waren insgesamt neu zu vergeben. Regierungschef Kishida hielt trotz des Mordes am Wahltermin fest: „Wir dürfen auf keinen Fall dulden, dass während einer Wahl Gewalt eingesetzt wird, um die Meinungsäußerung zu unterdrücken.“

Mit einem Affenzirkus an Heiterkeit erinnert derzeit die Netflix-Serie „King of Stonks“ an die Gaunereien bei Wirecard, dem pulverisierten Dax-Konzern. Vieles ist gut ausgedacht, die Realität aber schlägt jedes Drehbuch. Nun enthüllen die Kollegen der „Financial Times“, wie der einstige CEO Markus Braun eine immer grellere Illusionsshow der vermeintlich guten Zahlen fabrizierte, um so den Investor Softbank im April 2019 tatsächlich zu einer Injektion von 900 Millionen Euro zu bewegen. Daraufhin konnte Wirecard sogar noch mal 500 Millionen Euro Schulden aufnehmen.

Nachdem die „FT“ damals berichtet hatte, dass Drittpartner der Firma in Manila, Singapur und Dubai für fast den gesamten Gewinn stünden, wurde den skeptisch gewordenen Softbank-Leuten eine manipulierte Liste mit Fake-Kunden der drei exotischen Dependancen präsentiert – die gar keine echten Klienten hatten. Braun bestreitet ein Fehlverhalten. Bis der Prozess eines Tages beginnt, lauschen wir auf Netflix Magnus Cramer (Mathias Brandt): „Ganz ehrlich, die Welt liebt Arschlöcher“.

Und dann ist da noch Sanna Marin, Ministerpräsidentin, die in der vorigen Woche den Nato-Beitritt Finnlands auf den Weg brachte und sich am Wochenende mit Urlaub belohnte. Den begann die 36-jährige Sozialdemokratin mit dem Besuch des finnischen Rockfestivals „Ruisrock“, wovon alle Welt erfuhr und redete, weil die Veranstalter ein Bild des Rockfans auf Instagram posteten.

Zu sehen ist eine lächelnde, optimistische Frau in Lederjacke, Shorts und Stiefeln, was wie eine visuelle Gegenbotschaft für jenen Mann wirkt, der ihr kleines Land bedroht: den in sich verkrampften, müden Hausherrn des Kreml in Moskau, der einen uniformierten Befehlsempfänger nach dem anderen antanzen lässt. Anders als einst beim Kreml-Vasall Erich Honecker käme Udo Lindenberg wohl nie auf die Idee, diesem Staatsführer singend anzudichten, sich heimlich auch gerne mal die Lederjacke anzuziehen und tief im Inneren ein „Rocker“ zu sein.

Ich wünsche Ihnen einen unbeschwerten Start in die Woche.

Es grüßt Sie herzlich Ihr Hans-Jürgen Jakobs Senior Editor

Hier können Sie das Morning Briefing abonnieren:

Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.